Literarische Kurvendiskussionen
Ich weiß nicht ob, es Ihnen ähnlich geht, aber ich selbst habe ein sehr paradoxes Verhältnis zur Mathematik: Zwar finde ich es faszinierend, wie viel unseres komplexen alltäglichen Lebens durch eine kleine Formel oder einen anschaulichen Graphen vereinfacht werden kann. Auf der anderen Seite war ich noch nie eine große Leuchte auf diesem Fachgebiet, insbesondere wenn es um die Kurvendiskussion ging.
Sie können sich daher mein schockiertes Gesicht vorstellen, als ich an der Uni einst in ein Seminar zur Dramaturgie kam und der Dozent uns sechs Graphen gezeigt hat, die wir diskutieren sollten. Nach der anfänglichen Scheu kam aber die große Faszination. Was ich in diesem Seminar lernte, hilft mir auch noch heute beim Schreiben eigener oder beim Verstehen fremder Geschichten.
Von Science Fiction zu KI
Kurt Vonnegut, ein amerikanischer Science-Fiction-Autor, untersuchte zum Zeitvertreib einige Märchen und andere Geschichten und stellte fest, dass man die einzelnen Erzählschritte auf einem Graphen festhalten und somit deren Dramaturgie verbildlichen kann:
Auf der X-Achse kann man die erzählte Zeit ablesen; die Y-Achse hingegen überspannt zwei Pole: Der obere stellt das Glück dar, das die Figur im Laufe der Handlung erfährt, der untere das Unglück. 2016 griffen Forschende Vonneguts Arbeit auf und fanden mit Hilfe einer eigens dafür entwickelten KI heraus, dass man nahezu alle Geschichten auf sechs einfache Graphen bzw. archetypische Dramaturgien herunterbrechen kann.
Die archetypische Dramaturgien
(1) Der Protagonist ist am Beginn der Geschichte ganz oben: Er genießt einen hohen Status, hat wahrscheinlich viel Geld und könnte wohl glücklicher nicht sein. Im Laufe der Handlung aber verliert er Stück für Stück alles, sodass er am Ende ganz unten ist.
(2) Hier verhält es sich genau umgekehrt: Die Protagonistin ist am Anfang ganz unten, hat nichts, weder materiell noch in irgendeiner anderen Hinsicht. Aber sie kämpft sich nach oben, lässt ihr Unglück durch meist harte Arbeit hinter sich und genießt am Ende das größtmögliche Glück – die typische Geschichte vom Tellerwäscher, der zum Millionär wird.
(3) Das Loch in der Mitte des Graphen zeigt deutlich, worum es hier geht: Jemand mit viel Glück fällt bis etwa zur Mitte der Handlung tief herab, aber bleibt nicht in diesem Abgrund sitzen, sondern kämpft sich wieder nach oben, bis am Ende alles wieder gut ist – oder sogar noch besser als am Anfang. Ein interessanter Fakt nebenbei: Bereits fast alle Rittererzählungen aus dem Mittelalter verwenden diese Dramaturgie.
(4) Dass es auch anders geht, zeigt dieser Graph. Jemand schafft es, sich aus dem Unglück hochzuarbeiten und genießt in der Mitte der Handlung sein Leben, bevor irgendetwas passiert, das ihn am Schluss in die unglückliche Ausgangssituation zurückbefördert oder noch Schlimmeres. Ein aktuelles Beispiel, das ich an dieser Stelle natürlich nicht spoilern möchte, läuft derzeit im Kino – Todd Phillips Joker: Folie à Deux.
(5) Bis heute steht diese tragische Figur aus der Antike auf den weltweiten Theaterbühnen: Ödipus ist am Beginn des Dramas von Sophokles ganz oben, der König von Theben, verheiratet mit der wunderschönen Jokaste. Allerdings plagen nicht nur die Pest, die in seiner Stadt wütet, sondern auch Zweifel an seiner eigenen Herkunft und seinem Vertrauten Kreon sein Glück. Irgendwann ist Ödipus am Boden und weiß nicht weiter. Ein Orakelspruch muss her; und kaum erhält er dies, redet er sich die Welt so schön, dass er wieder das volle Glück empfindet. Leider trügt dieser Schein: Es stellt sich heraus, dass er seinen eigenen Vater getötet und seine Mutter geheiratet hat. Seine Geschichte geht nicht gut aus. Dieses Auf und Ab mit dem tragischen Ausgang kann man mit dem vierten Zickzack-Graphen anzeigen, aber wurde von Gustav Freytag auch in seiner berühmten dramaturgischen Pyramide visualisiert, die die Handlung von Tragödien in fünf Akte einteilt, die den Bewegungen unserer mathematischen Kurve hier entsprechen.
(6) Genau das Gegenteil repräsentiert der letzte Graph. Einfacher wird er durch ein typisches Märchen wie jenem von Schneewittchen. Am Beginn der Handlung steht sie unter der Fuchtel ihrer bösen Stiefmutter und ist dabei nicht gerade glücklich. Dann trifft sie auf die sieben Zwerge und erlebt endlich Freude – solange, bis dieses von der Hexe und dem giftigen Apfel zerstört wird. Die Zwerge sind am Boden zerstört, Schneewittchen tot. Und dann kommt der Prinz und belebt sie durch den Kuss wieder – das Glück ist perfekt.
Alle diese sechs Graphen helfen enorm dabei, die Dramaturgie von Geschichten zu verstehen. Hat man diese sechs Schemata einmal gesehen, fallen sie einem fast überall auf – egal ob in Romanen, Filmen oder auch Imagefilmen, die meiner Erfahrung nach meist Archetyp 2, 4 oder 6 aufgreifen.
Scheuen Sie sich also nicht davor, auch einmal mathematisch zu werden, wenn es um die Handlung Ihres nächsten Unternehmensvideos geht! Beim nächsten Mal bleiben wir übrigens in der wissenschaftlichen Sphäre und schauen uns an, inwiefern die Sprachwissenschaft und -philosophie helfen kann, auch wirklich die Botschaft zu vermitteln, die wir vermitteln wollen.
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Über den Autor
Dennis Pfefferkorn ist Lehrkraft für Deutsch und Latein an einem bayerischen Gymnasium. Zudem ist er als freischaffender Autor tätig. In seiner Bachelorarbeit legte er den Schwerpunkt auf Erzähltheorie und Storytelling.